“Der Zirkus zieht weiter (EP)” by Anatol Brief
Die Verschmelzung von poetischer Liedkunst mit den pulsierenden Rhythmen elektronischer Beats stellt zweifelsohne eine künstlerische Herausforderung dar, deren Meisterung ein Hochgenuss für die Sinne verspricht. Auf der einen Seite tiefgründige Lyrik, die die Seele berührt, auf der anderen Seite Synthesizer-Klänge in Symbiose mit elektronischen Beats, die selbst einem groovigen Clubhit Konkurrenz machen.
Anatol Brief hat diesen Balanceakt mit Bravour gemeistert, indem sie sorgfältig zwischen introspektiver Weltbetrachtung und einem auditiven Feuerwerk navigieren. Ihre EP ‘Der Zirkus zieht weiter’, die heute ihr Debüt feiert, ist ein Zeugnis ihres Talents und wir sind glücklich, noch rechtzeitig ein Ticket für diese Vorstellung ergattert zu haben. Der Eintritt erweist sich als lohnenswert: Die 6-Track-EP ist das gelungene Produkt der Kollaboration zwischen einem versierten Wortschmied und einem Klangtüftler, die gemeinsam neue Dimensionen des Folktronica-Genres erkunden.
Zu den hörenswerten Stücken zählen ohne Zweifel ‘Der Zirkus zieht weiter’, ‘Lieblingsaffe’ und ‘Noch einmal’. Mit einem Gefühl der Zufriedenheit verlasse ich diese Vorstellung, während die letzten Noten von ‘Noch einmal’ zu Ende pulsieren. Die Melancholie legt sich, ‘Der Zirkus zieht weiter’ aber Anatol Brief sind angekommen.
Welche musikalischen Persönlichkeiten verbergen sich hinter dem Pseudonym Anatol Brief, und wie ist eure musikalische Leidenschaft entstanden?
"Anatol Brief" ist ein Anagramm unserer beiden Vornamen Beat und Florian. Brief bedeutet auf englisch unter anderem auch "Unterlagen" oder "Akten". Ich stelle mir so eine alte Mappe voller Aufzeichnungen irgendeines Typen vor, die nach Jahrzehnten in einem Keller auftaucht.
Beat Frei und ich sind beide so typische Musikunterrichts-Bürgerkinder. In seinem Fall bedeutet das Klavier, Akkordeon, Schlagzeug und schon sehr früh kam die Liebe zu den ersten elektronischen Musikinstrumenten dazu.
Ich habe Waldhorn und später Bassgitarre gelernt. Und später war ich in Bands das Schweizer Taschenmesser und habe gespielt, was noch fehlte: Keys, Rhythmusgitarre, Bass, Melodica, Backing Vocals …
Kennengelernt haben wir uns am damals international beachteten Theater Basel. Beat war Toningenieur und ich habe da als Assistent angefangen. Wir haben allerhand Gebrauchsmusik für die Bühne beigetragen, ich ausserdem Songtexte. Singen mussten die dann allerdings andere.
Ich habe dann lange Zeit nur noch zuhause zur Gitarre gegriffen. Beat hatte hingegen immer irgendwelche Projekte: Bühne, Film sowie elektronische Livemusik. Als wir uns dann vor zweieinhalb Jahren wieder über den Weg gelaufen sind, haben wir uns gleich in seinem Studio verabredet.
“Der Zirkus zieht weiter” besticht durch seine musikalische, arrangierte und textliche Qualität. Was war die Quelle eurer Inspiration für diesen Song, und welche Botschaft wollt ihr damit vermitteln?
Alle sechs Songs auf der EP sind textlich aus einer gewissen Dringlichkeit entstanden. Sachen, die ich immer mal sagen wollte, die mich vielleicht eine Zeitlang geplagt oder genervt haben oder die ich mir von der Seele reden wollte. Im Fall des Titeltracks war es die Trauer über den Verlust eines viel zu jungen Menschen, den ich sehr, sehr gern habe. Nach dem Schock und dem Schmerz kam dann das Entsetzen darüber, dass sich die Welt einfach weiterdreht. Davon handelt der Text. Und Beat hat dieses Gefühl musikalisch sehr passend umgesetzt mit diesem fast bohrenden Orgelsound des Synths und dem vorwärts rollenden Rhythmus.
Der Song ist zugleich der Titeltrack eurer neuen EP “Der Zirkus zieht weiter”. Wie würdet ihr den Charakter und die Atmosphäre dieser EP beschreiben?
Das habe ich mir noch gar nicht so überlegt. Aber jetzt, wo du fragst: Da sind schon mehrheitlich gebrochene Farben auf der Palette. Auch die Vocals sind recht nahe am Sprechgesang oder wenn gesungen wird, dann eher chansonesk, falls es diesen Begriff gibt. Einiges hat eine leichte Neigung ins Melancholische: Sogar der Lovesong kommt etwas neurotisch daher. Dabei sind wir im Grunde gar nicht so übellaunige Gesellen. Beat hat ein schon fast beunruhigend sonniges Gemüt – meistens. Ich bin vielleicht manchmal etwas grüblerisch, aber ich mag mein Leben sehr. Und die nächste Single ist schon fertig und die ist regelrecht happy. Ehrenwort.
Thema: kreativer Prozess. Wie viel Zeit investiert ihr in eure Arrangements, und wie lange perfektioniert ihr sie, bis ein Song bereit für die Veröffentlichung ist, und wie gestaltet sich die Aufgabenverteilung unter euch?
Das ist recht unterschiedlich. In der Tonalität liegen die Tracks ja zum Teil recht weit auseinander: Einige davon hatten schon ein paar komatöse Monate auf Beat Freis Festplatte hinter sich, als wir anfingen, gemeinsam zu musizieren. Und ich habe dann dazu Lyrics und eine Gesangslinie gefunden. Der letzte Track auf der EP, der vielleicht den meisten Club-Appeal hat, ist so ein Fall: Den hatte Beat eigentlich parat und er musste nur etwas Platz schaffen für eine Stimme. Beim "Zirkus" war’s gerade umgekehrt, da habe ich Beat ein sehr simples Demo geschickt und er hat es komplett neu instrumentiert und arrangiert. Und "Die ganze Stadt" wiederum entstand nach einer mässig ergiebigen Session, als wir eigentlich schon leicht frustriert aufhören wollten in einer halben Stunde mit einem Synthbass, einer Melodica und einer fast schon antiken Bali-Trommel.
Wenn wir dann Aufnahmen haben, mit denen wir leben können, dann geht’s erst richtig los, weil Beat Frei anfängt zu tüfteln und zu schrauben, und mitunter – unübertrieben – Dutzende Versionen anlegt. Manchmal geht es direkt über in einen Remix, an dem mir dann wieder irgendwas besser gefällt als am Original und ich bettle, dass es dorthin übernommen wird. Und dann wird gemastert – teilweise auch in zig Versionen – bis die Songs in ihrem Sound zusammenpassen.
Wo und wann habt ihr euren nächsten Live-Auftritt, bei dem man euch auf der Bühne erleben kann?
Das ist eine verdammt schwierige Frage, denn bis auf den recht überschaubaren Track "Die ganze Stadt" sind die Arrangements ja teilweise recht opulent. Da sind manchmal haufenweise Spuren. Und das live zu performen, ohne dabei so ein semi-inspiriertes Playback-Gehampel aufzuführen, wie das in Mode gekommen ist, können wir als Duo nicht leisten. Aber klar: Gigs sind grossartig. Für den Sommer haben wir uns jedenfalls fest vorgenommen, unser kleines Repertoire live-tauglich zu machen. Und wenn Auftritte anstehen, dann posten wir das natürlich auf allen Kanälen.
Wie beurteilt ihr die Indie-Szene in Basel, und wie fühlt ihr euch als Teil davon?
Basel hat eine lebendige Szene – auch dank stabiler Locations wie zum Beispiel dem unverwüstlichen "Hirscheneck". Aber Basel war auch lange furchtbar etepetete, was Kultur betrifft: Es gab das Theater Basel – das drittgrösste Drei-Sparten-Haus im deutschsprachigen Raum, unglaubliche Museen, hochkarätige Orchester und dafür wurden – zu Recht – Abermillionen hochgehustet. Darüber hinaus galt aber bis vor noch nicht allzu langer Zeit: "Schaut zu, wo ihr bleibt."
Viele spannende Musiker*innen haben die Konsequenzen gezogen und sind eben nicht geblieben. In den letzten Jahren ist jetzt auch dank kulturpolitischer Initiativen aus Kreisen der Musiker*innen selbst etwas Bewegung in die Sache gekommen und in der Bevölkerung setzt allmählich der Gedanke durch, dass auch interessante Rock-, Pop- oder elektronische Musik Förderung braucht. In Basel gibt es viele tolle Bands und Projekte, die Unterstützung verdienen.
Wir beide sind jedoch über das Stadium hinweg, wo man denkt: Wenn wir den "lucky punch" setzen, dann kommen wir ganz gross raus und leben von der Musik. Für diesen Satz hätte ich von einem Label jetzt wohl Dresche gekriegt.
Unser Glück ist es vielleicht gerade, dass wir nicht von der Musik leben müssen und deshalb einfach machen können, was uns gefällt, genau so, wie wir es hören möchten. Ohne Label, ohne Produzenten und bisher auch ohne eine unterstellte oder tatsächliche Publikumserwartung. Das ist echter Luxus.
Wenn uns aber jemand Geld schenken wollte und sagen, dreht doch ein lustiges Video damit, dann würden wir natürlich keinen Höflichkeitsstreit anfangen.
Was sind die größten Herausforderungen, denen sich Indie Artists heutzutage stellen müssen?
Ohne jetzt diese Hände beissen zu wollen, die ja eh vor allem sich selbst füttern: Streaming-Plattformen sind es ja gerade nicht, die noch unbekannten oder jungen Bands ein Einkommen ermöglichen. Aber wenn neue Künstler*innen präsent sein wollen in den elektronischen Medien, müssen sie diese Plattformen bespielen. Und füllen sie so quasi gratis mit Inhalten, die für Abonnent*innen attraktiv sind. Lohnend ist das auf der Seite der Musiker*innen eigentlich erst für die ganz grossen Namen.
Dazu kommt, dass mittlerweile die Algorithmen zu diktieren scheinen, wie produziert und veröffentlicht wird. Immer etwas Neues: einmal pro Monat eine Single, dann den Remix, dann die EP mit den Singles, dann ein Album mit allen Singles und Remixes und dann von vorne. Ein permanenter Wasserfall. Dazu zweimal täglich auf Social Media Posts und Reels raushauen. Ich finde, das kann interessant sein bei Projekten, die das zur Kunstform erheben, wie Pomplamoose zum Beispiel. Aber ein Album wie "Dark Side Of The Moon" kommt in so einer Produktionslogik nicht mehr heraus.
Dazu kommt: Covid hat wohl eine Menge an Nachtleben und Clubkultur kaputt gemacht und bisher hat sich die Szene davon nicht überall erholt.
Gibt's bereits weitere Projekte, an denen ihr momentan arbeitet oder steht jetzt mal in erster Linie die EP im Vordergrund?
Das nächste Projekt ist Songs schreiben. Darauf haben wir Bock. Beat ist schon wieder im Kreativ-Modus, aber bei mir dauert es halt immer ein bisschen, bis ich das Gefühl habe, ich hätte was mitzuteilen. Es wird eh zu viel grund- und inhaltslos in die Welt versendet. Daran will ich mich nicht auch noch beteiligen.
Es musste halt erst wieder dringlich werden, damit dieser Anatol Brief von neuem in seine Mappe kritzelt und wir wieder Musik dazu machen müssen. Darauf freuen wir uns tierisch!